Marathon. Eine Bewegung  

Im Folgenden wird der Text "Marathon. Eine Bewegung" von Reiner Stach wiedergegeben.

" Marathon. Eine Bewegung

Am 11. Juni 1832, um 4.10 Uhr morgens, erlebten die Bewohner von Paris ein sonderbares, nie dagewesenes Spektakel. Vom Place Vendome her kommend, eilte ein bärtiger, sonnengebräunter, etwa 33jähriger Mann durch die Straßen, immer in östlicher Richtung sich haltend und in einer Gangart, für die niemand einen Begriff hatte: lange, federnde Schritte, die wie eine pausenlose Folge leichter Sprünge aussahen und die den Mann scheinbar ohne Anstrengung und doch mit beträchtlicher Geschwindigkeit voranbrachten. Trotz der frühen Stunde säumten dichtgedrängte Zuschauerreihen kilometerweit seinen Weg, bis hin zur Zollschranke nach Meaux, hinter der man ihn schließlich im Staub einer schnurgeraden Allee entschwinden sah.

Zwei Wochen später, am 25. Juni um 10 Uhr vormittags, meldete sich ein verwahrlost aussehender Mann in einem kurzen, völlig verschmutzten Leinenmantel am Hauptportal des Kreml. Zunächst wollten ihn die Wachmannschaften davonjagen, doch der Fremde verfügte über Reisevisa und ein in Paris gefertigtes Empfehlungsschreiben. Die Offiziere lasen und trauten ihren Augen nicht: Vor ihnen stand der norwegische Berufsläufer Mensen Ernst, der soeben mehr als 2600 km quer durch Europa gelaufen war, in einer Zeit, an die keine Pferdestaffel der Welt herangereicht hätte.

Von allen historisch belegten Ausdauerleistungen des Menschen ist diese wohl eine der beeindruckendsten. Sollten die überlieferten Zeitangaben den Tatsachen entsprechen - und Mensen Ernst hat sie sich mit Brief und Siegel bestätigen lassen, denn er lief im Auftrag einer Wettgemeinschaft -, so hat dieser Lauf von Paris nach Moskau, den bis heute niemand zu überbieten vermochte, eine Grenze des menschlichen Organismus markiert. Und dennoch - wir Heutigen, auf Grenzerfahrungen so Versessenen können uns nicht recht erwärmen an dieser Geschichte, deren Begeleitumstände uns verdächtig und teilweise sogar lächerlich erscheinen. Gewiß, die vollbrachte Leistung war ungeheuer - aber wie groß war sie denn nun tatsächlich, präzise ausgedrückt in Kilometern, Stunden und Minuten? Was uns hier Unbehagen macht, ist das Fehlen einer lückenlosen zahlenmäßigen Dokumentation, einer strengen Quantifizierung des Vollbrachten, eben das Moment des Sportlichen, das wir von heutigen Höchstleistungen gewohnt sind. So unbegreiflich der Lauf des Mensen Ernst auch war - es fällt uns doch schwer, ihn als sportliche Leistung anzuerkennen.

Es zählt zu den bedeutsamsten Phänomenen in der Geschichte des Sports, daß der Langstreckenlauf diese Widerständigkeit gegen das Zählen, Messen und Regeln bis auf den heutigen Tag bewahrt hat. Besonders augenfällig ist dies beim Marathonlauf, der erstmals im Jahr 1896 im Rahmen der neugeschaffenen Olympischen Spiele in Athen ausgetragen wurde. Während alle übrigen Disziplinen sich an Formen des Wettkampfs orientierten, die bereits in der Antike praktiziert worden waren, galt dies für den Marathonlauf nicht. Hier wählte man eine ganz andere historische Vorlage, nämlich den legendären 40-Kilometer-Lauf eines Nachrichtenkuriers von Marathon nach Athen, den dieser angeblich mit dem Leben bezahlt hat. Eine unglückliche Reminiszenz, wie sich zeigen sollte. Denn damit hatte man den modernen Marathonlauf als rituelle Wiederholung eines Todeslaufs definiert und ihn in einen Grenzbereich verwiesen, in dem sich keine wahrhaften Sportler, sondern eher Hasardeure tummelten. Tatsächlich galt der Marathonlauf noch jahrzehntelang als buchstäblich mörderische Disziplin, als das Qualvollste, was moderner Sport zu bieten hat. Während andere Formen der Leichtathletik - wie zum Beispiel Kurzstreckenlauf, Weitsprung oder Speerwerfen - sich längst von ihren religiös-rituellen Vorbildern emanzipiert hatten und zu Facetten einer weltweit expandierenden Sportkultur wurden, trug der Marathonlauf weiterhin den Ruch des Exzesses. Das berühmte Foto des italienischen Läufers Pietri Dorando, der bei der Olympiade 1908 nahezu bewußtlos und mit einknickenden Beinen die Ziellinie überquerte, festigte nur noch ein kulturell bereits eingewurzeltes Vorurteil. Wie hartnäckig sich dieses Ressentiment selbst gegen medizinisches Grundwissen zu halten vermochte, kann man an der Tatsache ermessen, daß der Marathonwettkampf für Frauen erst seit 1984 olympische Disziplin ist. Obwohl seit langem bekannt ist, daß der weibliche Körper für Ausdauerleistungen organisch besser ausgestattet ist als der männliche, glaubte man offenbar, ein derartiges Maß an Selbstschädigung als männliches Privileg erhalten zu müssen. Auch die Legende, daß beim Marathon 'immer wieder mal einer tot umfällt', ist nicht aus der Welt zu schaffen, obgleich die wenigen tatsächlichen Todesfälle überwiegend auf körperliche Dispositionen (z.B. Herzfehler) zurückzuführen sind.

Diese Sonderstellung des Marathonlaufs hat Gründe, die Aufschluß geben über die kulturelle Dynamik des Sports überhaupt. Sie sind in der Entwicklung des modernen Hochleistungssports zu suchen, der zu einem hochgradig abstrakten, verwissenschaftlichen Phänomen geworden ist. Mit Blick auf die sogenannten Trainingswissenschaften, deren Spezialisierungsgrad es mittlerweile mit der Medizin aufnehmen kann, hört man diese Klage seit langem - viel bedeutsamer ist aber die Tatsache, daß auch die konkret körperlichen Vorgänge, wie sie sich etwa bei einem Wettkampf vor aller Augen abspielen, sich immer mehr der sinnlichen Unmittelbarkeit entziehen. Einerseits muß der Zuschauer über immer speziellere Vorkenntnisse verfügen, um das Gebotene überhaupt würdigen zu können; andererseits muß er im entscheidenden Augenblick immer häufiger Zeitlupenwiederholungen und Anzeigetafeln zu Rate ziehen, um den Sinn dessen zu erfahren, was er soeben gesehen hat. Denn dieser Sinn kristallisiert sich in der nackten Zahl. Das Ideal des Hochleistungssports ist die restlos quantifizierbare, damit aber auch absolut vergleichbare Leistung. Wenn ein präzises Regelwerk vorschreibt, wie die Bekleidung und das Schuhwerk auszusehen haben, welcher Bahnbelag erlaubt ist, wie der Rückenwind zu messen ist und um welchen Bruchteil einer Tausendstelsekunde die elektronische Uhr abweichen darf, dann ist jeder 100-Meter-Sprint, bei dem diese Regeln eingehalten werden, mit jedem anderen Sprint auf der Welt vergleichbar. Anders ausgedrückt: Jeder Lauf ist im Prinzip unter genau den gleichen Bedingungen wiederholbar. Das Laborexperiment wird zur Leitidee des sportlichen Wettkampfs - eine negative Utopie, deren unmenschliche Züge auch die farbenprächtigste Olympiashow nicht zu kaschieren vermag.

Dieser Tendenz setzt der Marathonlauf gleichsam einen Eigenwiderstand entgegen, der vom Bewußtsein der Beteiligten weitgehend unabhängig ist. Die 'krumme' Strecke von 42 Kilometern und 195 Metern - die historisch übrigens auf völlig zufällige Wise zustande kam - läßt sich nicht auf ein geschlossenes Oval aufwickeln; und käme doch einmal ein Veranstalter auf die Idee, die Champions des Langlaufs 105 Stadionrunden drehen zu lassen, so würde das Publikum dies eben nicht als Marathonlauf wahrnehmen, sonder entweder als sterile Akkordleistung oder als Jux-Veranstaltung ähnlich dem Dauertanzen. (Tatsächlich werden in Frankreich 'Siebentage-Läufe' in der Halle veranstaltet, bei denen eine Atmosphäre herrscht, die zwischen Rummelplatz und Fegefeuer pendelt.) Das Wesentliche des Marathonlaufs ist nun einmal die sichtbare Überwindung von Raum, der physische Brückenschlag über die ungeheure Leere zwischen Start- und Zielort. Der Marathonläufer verläßt die soziale Exklave der Sportstätte und dringt ein in den alltäglichen Lebensraum, in Städte und Landschaften.

In diesem Raum sind der Quantifizierung enge Grenzen gesetzt. So waren zum Beispiel bis in die jüngste Zeit die Anforderungen an die Genauigkeit der Streckenvermessung recht bescheiden, und noch vor wenigen Jahren kam es bei Stadtläufen immer wieder vor, daß die Strecke um Hunderte von Metern zu kurz war oder daß unzureichende Absperrungen zum 'Abkürzen' geradezu einluden. Die Zeitmessung ist vergleichsweise verläßlich, und selbstverständlich behalten auch Langstreckenläufer die Uhr im Blick und versuchen planmäßig, ihr körperliches Potential in höchstmögliche Geschwindigkeit umzusetzen. Doch birgt der Marathonlauf eine solche Fülle von Unwägbarkeiten und Überraschungen, daß Erfahrung häufig schwerer wiegt als die vom Sportarzt gemessene und attestierte Kondition. Temperatur und Luftfeuchtigkeit, Steigungen, Engpässe und wechselnde Straßenbeläge, unterschiedlich gute Versorgung durch Getränke, das Verhalten des Publikums und der Konkurrenten - all dies sind Faktoren von großer Variationsbreite. Der Marathonwettkampf ist ein singuläres Ereignis, das weder beliebig wiederholt noch mit anderen Wettkämpfen auf ausschließlich quantitativer Ebene verglichen werden kann. Seine Struktur ist nicht die des wissenschaftlichen Experiments, sondern des historischen Ereignisses, dessen Konstellation von Ursachen und Wirkungen sich niemals wiederholt. Der Versuch, dieses Ereignis in das von Regeln verkrustete System des Hochleistungssports einzupassen, muß demgemäß auch zu Widersinnigkeiten führen: So ist es noch heute weltweit üblich, Marathonläufern bestimmte Zeitvorgaben zu setzen, die sie unterbieten müssen, um in die Olympiamannschaft ihres Landes aufgenommen zu werden. Der Läufer, der sich monatelang vorbereitet hat und dann am entscheidenden Tag bei 25 °C an den Start muß - und womöglich ohne einen ernstzunehmenden Gegner, der ihn befeuern könnte -, hat eben Pech gehabt.

Jede Strecke hat ihre Eigenheiten, jeder Wettkampfort sein spezifisches Flair. Konsequenterweise werben daher die Veranstalter der großen Stadtläufe auch keineswegs vorrangig mit leistungsbezogenen Daten, also etwa der 'Schnelligkeit' der Strecke. Hervorgehoben wird vielmehr gerade das Inkompatible, die sinnlichen Charakteristika eines Laufs, wie etwa die architektonische Ästhetik, das Klima, die begleitende Folklore oder die Exaltiertheit des einheimischen Publikums. Die ausgesprochen kräftezehrende Streckenführung in New York hält denn auch kaum einen Läufer davon ab, sich der dort inszenierten ekstatischen Urbanität auszusetzen.

Indessen hat die sinnliche, lebensweltliche Konkretheit des Langstreckenlaufs auch eine abstraktere Kehrseite, und dieser verdankt der 'Mythos Marathon' sein zähes Leben. Sie besteht, vereinfacht gesprochen, darin, daß man dem Marathonläufer nicht ansieht, aus welchen Quellen er eigentlich seine Leistung schöpft. Die Ideologie des Sports mit ihrem Leitspruch 'Immer höher, immer weiter, immer schneller' hatte ja schon frühzeitig entsprechende Körperbilder hervorgebracht, die sich dem Publikum allmählich einprägten und positiv besetzt wurden. Die Silhouette des Hochspringers verweist unmittelbar auf die Richtung seiner Spezialisierung, und wie ein Körper modelliert werden muß, um ihn zu befähigen, Eisenkugeln weit durch die Luft zu schleudern, ist sinnlich unmittelbar einleuchtend. Der Marathonlauf hingegen verlangt Qualitäten, die dem Betrachter naturgemäß verborgen bleiben und die daher zum Gegenstand von Legenden werden: ein leistungsfähiges Herz-Kreislauf-System, hohe Sauerstoffaufnahme, die Fähigkeit zu rascher Regeneration sowie zur mentalen Kontrolle des Körpers. Es sind dies Qualitäten, die man unter dem Begriff einer körperlich-geistigen 'Ausdauer' zusammenfassen kann. Ausdauer jedoch ist eine Eigenschaft, die sich nur allmählich und über große Zeiträume zur Geltung bringt - eine langsame Qualität gleichsam -, und damit steht sie völlig quer zu der dramatischen Beschleunigung und Fragmentierung der Wahrnehmung, die sich unter dem Druck technischer Medien und Fortbewegungsmittel im letzten Jahrhundert vollzogen hat.

Zu einer wenigstens teilweisen Entmystifizierung des Marathonlaufs konnte es erst kommen, nachdem Ausdauer als eigenständige, definierbare Körperqualität ins allgemeine Bewußtsein gelangt und nun ihrerseits positiv besetzt worden war. Dieser Prozeß vollzog sich in den USA der fünfziger und sechziger Jahre. 'Fitness' hieß die neue Leitidee, die sich zunächst nicht auf das Körpergefühl des einzelnen, sondern auf eine sogenannte 'Volksgesundheit' bezog. Um diese war es offenbar nicht zum besten bestellt. Immer häufiger wurden Schulärzte und vor allem Militärs im Weißen Haus vorstellig, um auf gesundheitspolitische Maßnahmen zu drängen, die den Folgen von Bewegungsarmut und einseitiger Ernährung entgegenwirken sollten. Laufen, Schwimmen und Radfahren wurden als Ausdauersportarten empfohlen, und mehrere amerikanische Präsidenten - am nachdrücklichsten John F. Kennedy - initiierten entsprechende Kampagnen.

Diese verordneten Aktivitäten hätten jedoch wohl kaum zu Keimzellen einer soziokulturellen Bewegung werden können, hätte ihnen nicht von Anbeginn ein dumpfes Unbehagen der Bevölkerung als Resonanzboden gedient. Die zunehmende Automatisierung der Arbeits- und Lebenswelt und der immer höhere Abstraktionsgrad der Arbeit im rasch expandierenden Dienstleistungssektor hatten zu einer extremen Körperdistanzierung, ja Körperentfremdung geführt. So ist es kein Zufall, daß es vor allem die wohlhabende Mittelschicht mit einem weit überproportionalen Anteil an Akademikern und Selbständigen war, die ein zunehmendes Bedürfnis nach vitalen Körpererfahrungen entwickelte. Der Dauerlauf als gleichsam technikfreie Aktivität setzte sich schließlich durch, weil er dieses Bedürfnis am unmittelbarsten befriedigt und weil hier - im Gegensatz etwa zu Schwimmen und Skifahren - die Lernphase sehr kurz ist und somit die investierte Anstrengung rasch und spürbar 'belohnt' wird.

Von der biederen Schulsport-Ideologie und der atavistischen Vorstellung eines 'starken und gesunden' Amerika wandte sich die Fitness-Bewegung jedoch bald und nachdrücklich ab. Bereits die Joggingwelle, die Ende der sechziger Jahre einsetzte, wurde von Werthaltungen getragen, die ganz eindeutig auf Bedürfnisse des Individuums ausgerichtet waren, auf das konkrete, leibliche Schicksal des einzelnen. Der zunehmende Jugendkult der westlichen Welt beschleunigte noch diese Tendenz. Der vitale Schub, den der langsame Dauerlauf körperlich wie mental auslöst, ermöglicht dem Jogger, sich mit seinem als verjüngt erlebten Körper wieder stärker zu identifizieren. Es ist daher kein Widerspruch wenn einerseits die Sport- und Modeindustrie, die sich bald der neuen Bewegung bemächtigte, den Läufern immerzu Bilder von kerngesunden Zwanzigjährigen vorhält, während die 'Zielgruppe' überwiegend aus Vierzig- bis Sechszigjährigen besteht. Denn diese sind es, die nach jugendlichen Leitbildern und Identifikationsmöglichkeiten verlangen; sie - und nicht etwa die Jugendlichen selbst - sind die eigentlichen Agenten des Jugendfetischismus.

In den siebziger Jahren erfaßte die Jogging-Bewegung sämtliche Industrienationen des Westens. Vor allem das sich entfaltende ökologische Bewußtsein - mit seiner starken Aufwertung aller vorgeblich 'natürlichen' Lebensäußerungen - trug dazu bei, daß sich die Fitness-Idee zu einer sozialen Leitvorstellung verdichtete. Als solche begann sie jetzt spürbar Druck auf den einzelnen auszuüben. Während der laufende Büroangestellte seinen schweißgebadeten Körper mittlerweile sogar in den Stadtzentren präsentieren durfte - noch zehn Jahre zuvor wäre dies undenkbar gewesen -, geriet der passive Nicht-Läufer, dem scheinbar seine Gesundheit gar nichts bedeutete, unter Rechfertigungszwang. Wie groß der Anteil derjenigen war, die nur aufgrund dieser diffusen sozialen Verpflichtung zu laufen begannen, ist schwer auszumachen. Ohne Zweifel war es jedoch überwiegend diese Gruppe von 'Mitläufern', die später - als neuerliche Anpassungsleistung - zu anderen, von der Industrie nun planmäßig lancierten Körpermoden überwechselte, etwa zu Aerobic oder Stretching. Seit Anfang der achtziger Jahre ist in den USA zu beobachten, daß die Zahl der Jogger stagniert, weil viele Jugendliche sich von vornherein attraktiveren, symbolisch stärker aufgeladenen Körperbildern zuwenden, die der Sphäre der Pop- und Subkultur entstammen.

Auf der anderen Seite entfesselte die am eigenen Körper erfahrene und genossene Ausdauerleistung das Verlangen nach gesteigerter Intensität. Jenseits der Joggingwelle entstand eine Laufbewegung, die zu immer längeren Strecken und zu systematischem, leistungsorientiertem Training tendierte. Der Marathonlauf, der bislang noch immer als extreme asketische Leistung bestaunt worden war, geriet nun plötzlich in die physische Reichweite von Hunderttausenden von Männern und Frauen. Eine doppelte Dynamik wurde in Gang gesetzt: Einerseits führte das immer schnellere und immer längere Laufen zu intensiven Körpererfahrungen, die bis zu rauschhaften Zuständen reichten und entsprechende psychische Abhängigkeiten schufen. In diesem Rausch vollbrachte man jedoch andererseits - und gleichsam als Nebenprodukt - Leistungen, die Bewunderung erregten und narzißtische Befriedigung vermittelten. Der Langläufer bricht aus der aggressionsfördernden Eintönigkeit des Alltags aus und überläßt sich euphorisierenden Zuständen der Entspannung - ohne doch wie der Drogenabhängige fürchten zu müssen, in Regression zu versinken und aus der Leistungsgesellschaft herauszufallen. Diese Dynamik, in der sich körperliche Lust und sozialer Ehrgeiz vermischten und gegenseitig verstärkten, kulminierte im Marathonlauf. Und es konnte nicht lange dauern, bis sich diese individuelle Erfahrung eine ihr adäquate soziale Bühne schuf: den City-Marathon.

Das Vordringen des massenhaften Laufens in die Städte ab Anfang der achtziger Jahre markiert eine entscheidende Verschiebung der Werte, von der die neue Körperkultur sich ursprünglich hatte leiten lassen. Wer ausschließlich um der Gesundheit und Fitness willen lief, für den mußte es als selbstverständlich erscheinen, daß dafür nur eine 'natürliche' Umgebung in Betracht kam. Die zubetonierten, stickigen, krank machenden Städte, in denen man seinen Arbeitstag verbringen mußte, wurden gemieden und als zivilisationsferner Gegenpol wurde vor allem der Wald wahrgenommen, ein vermeintlicher Schonraum, in den man sich laufend flüchtete. Dieses naive Naturverständnis, das in vielem an die Ideologie der Wandervogel-Bewegung erinnert, mußte jedoch an Anziehungskraft verlieren, sobald die Erfahrung des Laufens sich intensivierte und differenzierte. Das Einssein mit dem eigenen Körper, von dem viele Läufer berichten, die Erfahrung eines meditativen, psychisch befreienden Laufens, schließlich auch die Lust an der eigenen Leistungsfähigkeit - all dies führte zu dem immer ausgeprägteren Bedürfnis, die neue Erfahrungsdimension auch öffentlich darzustellen und zu kommunizieren. Die zahllosen Laufgruppen und 'Lauftreffs', die insbesondere in der Bundesrepublik entstanden, konnten dieses Bedürfnis nur kurzzeitig befriedigen; denn sie boten keine wirkliche Öffentlichkeit, und wer hier auf Bestätigung und Bewunderung hoffte, erfuhr nur allzu häufig bloße Konkurrenz. Insofern war die Rückeroberung der Städte die paradoxe, jedoch folgerichtige Konsequenz einer Bewegung, die ursprünglich der Asphalt- und Bürowelt hatte entfliehen wollen. Allein die Stadt, dieser Tauschmarkt der Zeichen und Symbole, bot den geeigneten sozialen Raum, um das eigene innere Erleben auch gesellschaftlich in Szene zu setzen.

Den meisten Teilnehmern der City-Marathons geht es nicht vorrangig darum, eine meßbare sportliche Leistung zu erbringen. Sie laufen vielmehr so, wie man den Berg erklimmt: Wesentlich ist das Durchhalten, das am Ende durch das Gipfelgefühl einer rauschhaften Omnipotenz belohnt wird. Zahlreiche Läufer, die erstmals in ihrem Leben die Ziellinie eines Marathons überqueren, schweben für Stunden in der glücklichen Illusion, von nun an sei ihnen nichts mehr unmöglich.

Während jedoch beim Bergsteigen die narzißtische Befriedigung ein einsamer Genuß ist, der sich im Panoramablick über die Welt vergegenständlicht, ist für den Marathonläufer entscheidend, daß er das Ziel unter den Augen der Menge erreicht. Der Marathonlauf ist die wohl einzige Sportart, bei der die Freizeitsportler nicht zugleich ihr eigenes Publikum sind: An den weltweit größten City-Marathons in New York, London und Berlin nehmen bis zu 25000 Menschen teil, und bis zu drei Millionen Zuschauer stehen Spalier. Und doch trägt jeden Läufer das Gefühl, Mittelpunkt eines sozialen Ritus zu sein. Der City-Marathon ist eine festliche Zeremonie, die nicht erst am Ziel, sondern vom ersten Kilometer an und über mehrere Stunden zelebriert wird. Der Marathonläufer wird durch ständigen Applaus in seinem Durchhaltewillen bestärkt, er wird fotografiert und gefilmt, mit Musik bei Laune gehalten und mit Getränken und Nahrung reichlich versorgt. Er weiß, daß der Jubel der Zuschauer nicht nur der vollbrachten Leistung gilt, sondern ebenso den noch bevorstehenden Strapazen, die er aus freiem Willen auf sich genommen hat. Er bewegt sich auf einem 42 Kilometer langen Laufsteg, auf dem er für kurze Frist der Anonymität seines Daseins enthoben ist. Zugleich erlangt er eine öffentliche Beglaubigung der eigenen Stärke, wie sie sonst nur professionellen Sportlern vergönnt ist: 'Jeder, der ankommt, ein Sieger.'

Die narzißtische Komponente des Laufens hat im vergangenen Jahrzehnt deutlich an Bedeutung gewonnen. Die Hersteller von Sportmode haben diesen Trend frühzeitig erkannt und forciert. Gefragt sind leichte, seidig glänzende Textilien, die den durchtrainierten Körper betonen und erotisch illuminieren. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung bilden hauchdünne Gewebe, die sich wie eine zweite Haut über den Körper legen und ihn wie eine lebendige Skulptur erscheinen lassen. Sechzigjährige Herren in papageienbunten Leggins, mit denen sich vor zehn Jahren selbst das wohlproportionierteste Mädchen nicht auf die Straße gewagt hätte, sind mittlerweile bei jedem Wettkampf anzutreffen. Auch daran ist zu ermessen, daß der City-Marathon, ähnlich wie der Karneval, ein Ritual der sozialen Entfesselung ist, das die Normen der körperlichen und gestischen Selbstdarstellung zeitweilig außer Kraft setzt.

Was den Teilnehmern des Laufs zwangsläufig entgehen muß, ist die Tatsache, daß ihre Leistung zwar Anlaß, aber keineswegs alleinige Ursache der erregten Atmosphäre ist. Die Masse feiert nicht nur die Läufer; sie feiert auch sich selbst - ganz so, wie dies in Fußballstadien oder in Rockkonzerten zu beobachten ist. Längst ist der City-Marathon Bestandteil einer profanen Festkultur, die der zunehmenden Vereinzelung der Menschen das öffentliche, inszenierte Spektakel entgegensetzt. Genußvoll gibt man sich den wechselnden Stimmungen und Identifikationen der Masse hin - wobei sich allerdings beim Marathonlauf aktive und passive Teilnehmer in verschiedenen Erfahrungsräumen bewegen. Während der Läufer einer zunehmenden Verengung des Bewußtseins unterliegt und spätestens nach 30 Kilometern fast ausschließlich mit den Signalen des eigenen Körpers beschäftigt ist, bietet sich dem Betrachter ein wahres Epos leiblicher Schicksale, die ähnlich einer Prozession an seinem Auge vorüberziehen. Das Panorama reicht vom Spitzenathleten, der sich mit unbegreiflichem, maschinenmäßigem Gleichmaß bewegt und bereits nach zwei Stunden und zehn Minuten das Ziel erreicht, bis zum überforderten Jogger, der sich in fünf Stunden über die Strecke schleppt. Entsprechend abgestuft sind die Emotionen der Zuschauer: zunächst das Bestaunen der puren Leistung, das Wiedererkennen der aus den Medien bekannten Gesichter; dann Faszination und Vergnügen an der karnevalesk vorbeitrabenden Menge, in der sich Spaßvögel mit Wikingerhelm oder Balletröckchen ihren besonderen Auftritt verschaffen; schließlich Mitleid und nicht selten auch unverhohlene Häme gegenüber denen, die im doppelten Sinne 'am Ende' sind. Es besteht kein Zweifel daran, daß die masochistischen Impulse, die bei manch einem Läufer deutlich zutage treten, ihr soziales Spiegelbild in unbewußten sadistischen Regungen der Zuschauer finden. Denn diese genießen aus sicherer Entfernung körperliche Grenzerfahrungen, die sichtbar auch mit Leiden verbunden sind - so sichtbar, wie dies bei kaum einer anderen Sportart der Fall ist.

Es gehört zu der besonderen Dramartugie des City-Marathons, daß hier Hochleistungssportler und Freizeitläufer nacheinander dieselbe Bühne betreten. Diese Dramarturgie ist jedoch denen, die sie nicht unmittelbar erleben, außerordentlich schwer zu vermitteln. Die körperlose Sterilität des Fernsehens, die bei Sportübertragungen ohnehin schon recht sinnfällig ist, läßt vom Atmosphärischen wenig und vom rituellen Moment des Laufs überhaupt nichts erahnen. Die schnellen Schnitte zwischen den verschiedenen Kategorien von Läufern lassen alles, was sich im hinteren Teil des Feldes abspielt, leicht als lächerlich erscheinen, wohingegen die Zuschauer an der Strecke fließende Übergänge erleben und dementsprechend auch ihre Erwartungen kontinuierlich verändern. Die besondere Zeitqualität der Ausdauerleistung und die für den Langstreckenlauf charakteristische Langsamkeit der Ereignisse sperren sich gegen das schnelle elektronische Medium. Schließlich bereitet auch die Abbildung körperlicher Leiden offenkundige Schwierigkeiten; das zeigt sich vor allem dann, wenn die weltbesten Läufer unter sich sind und daher für Fernsehjournalisten Informationspflicht besteht. Gewohnt, den Hochleistungssport als eine im Prinzip saubere und fröhliche Sache darzustellen, geraten sie in Verlegenheit, wenn unter dem minutenlangen Blick der Kamera die malträtierten Körper aufbegehren. Die Läuferin, die völlig dehydriert über die Bahn taumelt - wie 1984 Gaby Andersen-Schiess bei der Olympiade in Los Angeles -, der Athlet, der sich mitten auf der Straße übergibt - wie bei der Weltmeisterschaft 1991 in Tokio -, oder der 'sichere Sieger', der auf den letzten 200 Metern achtmal zu Boden geht - wie der Russe Igor Fatjanow beim Malta-Marathon von 1994 -, lassen sich nicht mehr allein mit dem Hinweis auf die extremen Anforderungen des Marathonlaufs kommentieren. Unweigerlich erinnern diese Bilder den Zuschauer an die geistigen und körperlichen Qualen des Spitzensports, die seinem Blick gewöhnlich entzogen bleiben.

Nach mehr als einem Jahrzehnt hat der Marathon-Boom seinen Sättigungsgrad offenbar noch nicht erreicht. Die Zahl der Veranstaltungen nimmt weiter zu, und mittlerweile haben auch mehrere osteuropäische Städte eigene Marathonläufe begründet. Allerdings verschiebt sich das Interesse allmählich zugunsten von Veranstaltungen, bei denen der Wettlauf in ein sozial oder landschaftlich besonders exotisches Umfeld eingebettet ist, während Traditionsläufe mit regionaler Klientel in Schwierigkeiten geraten. Die Nötigung, den Läufern immer mehr 'bieten' zu müssen, macht die Organisatoren abhängig von Geldgebern aus der Wirtschaft, die den Marathon auf ihre Weise entmystifizieren ('Just do it') und dem sport-industriellen Komplex zügig einverleiben. Und je weiter diese Entmystifizierung voranschreitet, desto mehr nähert sich wiederum das Verhalten der Läufer dem Konsumverhalten gewöhnlicher Touristen: Wer von Stockholm bis Boston schon 'alles gelaufen' hat, bucht eben im nächsten Jahr den Hawaii-Marathon. Schon gibt es die ersten Reiseveranstalter, die sich ausschließlich mit diesem expandierenden 'Marathon-Tourismus' befassen.

Kein Zweifel: Der Marathon wird seinen Ort finden in der Erlebniswelt des 21. Jahrhunderts. Der zunehmende Abstraktionsgrad aller gesellschaftlichen Beziehungen, der die Industriegesellschaften weltweit kennzeichnet, bringt ein wachsendes Bedürfnis nach intensiven, ekstatischen Erfahrungen hervor, in denen sich der einzelne seiner Leiblichkeit und vielleicht auch seiner Einzigartigkeit neu vergewissert. Gleichzeitig stirbt jedoch die Fähigkeit ab, sich ganz und gar auszusetzen, sich dem völlig Ungewissen zu überlassen. Man begehrt das Abenteuer - doch eines, dessen Beginn, Verlauf und Ende nicht allzu unberechenbar sind. Ein derartiges Abenteuer ist der Marathonlauf: eine geplante, von langer Hand vorbereitete und mit hohem organisatorischem Aufwand abgesicherte Erfahrung von höchster Intensität. Die Angst des Läufers vor dem ersten Marathon ist die wohlige Angst dessen, der unbekanntes Gelände betritt und doch weiß, daß er es in jedem Augenblick wieder verlassen kann.

Es konnte nicht ausbleiben, daß einzelne immer weiter in dieses Gelände vordringen und nun ihrerseits Bewegungen initiieren, die den Marathonlauf weit hinter sich zurücklassen. Ultralange Läufe bis zu 250 Kilometern, spektakuläre Bergläufe und Wettkämpfe unter extremen klimatischen Bedingungen lassen vermuten, daß im Bereich der Ausdauer die menschlichen Möglichkeiten noch längst nicht ausgelotet sind. Indessen liegt der Verdacht nahe, daß derartige Vorstöße lediglich den Gestus der permanenten Steigerung und Überbietung wiederholen, der die Konkurrenzgesellschaft ohnehin beherrscht. Die brennende Leere im Geist des Ultraläufers könnte die des Zen-Meisters ebenso sein wie die des Akkordarbeiters.

Für die Zukunft bedeutsamer ist die Frage, warum der Langstreckenlauf als völlig zweckfreie Bewegung eine so ausgeprägte und offenbar auch tiefreichende Dynamik zu entfesseln vermag. Wer zu laufen beginnt, tut dies zunächst um der Gesundheit willen; später wird dann der psychisch aufhellende Effekt des Laufens genossen und möglicherweise treten auch leistungssportliche Ambitionen hinzu. Doch selbst dann, wenn nach Jahren all diese Motive ihre ursprüngliche Schubkraft eingebüßt haben, bleibt das Laufen Bestandteil eines gewandelten Selbstbilds. Fast sieht es so aus, als vollziehe der passionierte Marathonläufer individuell nach, was die neuere Geschichte des Langstreckenlaufs insgesamt charakterisiert: der Übergang vom instrumentellen Fitnessdenken zur Modellierung der sozialen und psychischen Identität.

Warum dies so ist, wissen wir nicht; und der Gedanke, hier komme womöglich anthropologisches Urgestein zutage, ist zumindest verführerisch. Dann enthielte sogar die fragwürdige Parole des olympischen Marathonsiegers Emil Zatopek ein Moment von Wahrheit: 'Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch läuft.' "

zitiert aus: "Marathon. Eine Bewegung" von Reiner Stach

(Aus dem Buch: "Zur Psychologie des Laufens". Herausgegeben von Reiner Stach. Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1994)